Henrietta, oder: Sei nicht nur vernünftig, Unternehmen!

Zurück aus der Sommerfrische sage ich hallo und herzlich willkommen zur neuen Episode. Ich bin u.a. mit dem Fahrrad von Hamburg nach Berlin gefahren, verständlicherweise nicht nur an einem Tag. Ich habe mehrmals übernachtet. Einmal habe ich unter freiem Himmel im Wald geschlafen. Haben Sie eine Ahnung, was es in den dunklen deutschen Waldungen da draußen des nachts für Geräusche gibt?

Es kreucht und fleucht, es tappst und kriecht, es raschelt und atmet weit weg und ganz nah. Einfach überall. Sogar direkt neben meinem schlichten Lager schnüffelte und schmatzte ein suchendes Tier. Ich werde mir das wohl eine Stunde lang angehört haben; ich konnte aber nichts sehen. Zuerst befürchtete ich ein Wildschwein mit beeindruckendem Gewaff, wie der Jäger wohl sagen würde, gepaart mit massiger Nackenmuskulatur.

Ich weiß nicht, ob Sie es wissen: Diese Kombination wäre bei einer Konfrontation günstig für das Schwein, für mich aber gar nicht. Oder war es doch ein hungriger Wolf auf der Jagd? Schon seit Tagen unterwegs, und nun bereit für jedes Risiko? Als ich mir dann aber vorstellte, dass es sicher nur ein possierlicher kleiner Igel war, konnte ich bald friedlich einschlafen. So verging die Nacht eigentlich ganz ruhig und angenehm.

Nur als ich am nächsten Morgen aufwachte, stellte ich fest, Henrietta hatte es sich unbemerkt bei mir gemütlich gemacht. Auf meiner Stirn. Henrietta, so habe ich sie genannt, die wahrscheinlich kapitalste Nacktschnecke, die, das müssen Sie mir jetzt glauben, zwischen Hamburg und Berlin jemals gesehen worden ist. Und?! Wie haben Sie den Sommer verbracht?

Und?! Wie haben Sie den Sommer verbracht?

Eine Schnecke, wie ekelig. Schreck lass nach, allein im Wald? Das würde ich nie machen! Hattest Du keine Angst? Respekt! Das sagen eigentlich alle, die davon dann erfahren haben. -Na ja, die Welt steckte immer schon voller Gefahren, und wir Menschen haben uns sehr weit entfernt von der Natur. Das Leben funktioniert für viele ganz gut ohne sie, und so sorgt vermutlich schon eine banale Übernachtung im Wald bei manchem für Erstaunen. Allerdings gehören wir Menschen doch zur Natur; eigentlich sind wir doch auch heute immer noch ein Teil von ihr.

Und darum hatte ich keine Angst und alles hat gut geklappt. Ich hatte jedenfalls nicht das Gefühl, dass ich da nicht hingehöre; nicht Teil davon sein soll. Ich würde sagen, dies kleines Naturerlebnis hat sogar meine Sinne geschärft… .

Wir haben beides im Unternehmen: die Vernunft und die Natur des Menschen

Diese Geschichte, knapp erzählt, ist natürlich relevant für das, was nun folgt. Ich gehe jetzt auf das Verhältnis der Geisteshaltung oder Natur des Menschen und der Vernunft in Unternehmen ein. Die erkennen ja oft nur Teile seiner Natur an, aber der Mensch ist mehr als immer nur vernünftig und rational. Ist das so schlecht für die Unternehmen?

Wenn ich mich schon in den dunklen Wald traue, um die Nacht mit Henrietta zu verbringen, dann kann ich auch hier mutig sein: Also demonstriere ich meine Überlegungen an einer exemplarischen Diskussion, nämlich anhand der Frage nach dem Verhältnis von Selbst- und Fremdbestimmung im Unternehmen.

Unternehmen zeichnen sich durch vieles aus, auch durch miteinander verbundene Wertschöpfungsaktivitäten oder Prozesse, und oft wird versucht, die mit Regeln zu beschreiben und zu definieren. Wenn es aber zu wenige oder ungeeignete Regeln im Unternehmen gibt, die ja zur verbindlichen, gleichartigen Abwicklung von bestimmten Tätigkeiten beitragen sollen, ist das schnell eine Quelle der Ineffizienz. Man könnte dann sagen, die Betriebsstruktur ist unzureichend.

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen Bearbeitungswege und Lösungen in so einer Umgebung immer wieder neu produzieren. Das darüber Nachdenken kostet immer wieder Kraft; es bindet also Humanressourcen. Regelungslücken müssen vielleicht mit Improvisationen gefüllt werden, damit es weitergehen kann. Vorgänge, die eigentlich gleichartig sind, werden dann häufig verschieden gehandhabt, weil unterschiedliche Leute zu ganz unterschiedlichen Bearbeitungsvarianten kommen können.

Hätte ich das anders besser machen können?

Die Menschen fragen sich, wie soll ich jetzt handeln? Was mache ich jetzt mit dieser Sache hier, die ich zu bearbeiten habe? Ist, was ich jetzt vorhabe, vielleicht falsch? Kommt womöglich später jemand um mir zu sagen, dass ich es anders hätte besser machen können?

Es fehlen Routinen. Und das kann in der betrieblichen Praxis ganz schön nervenaufreibend sein und die Menschen manchmal überfordern. Der wiederholte Neuentwurf und die Produktion von Lösungsverfahren für betriebliche Problemlagen ist aufwendig. Die Handelnden brauchen dafür oft Kreativität. Sie müssen vielleicht eine Lösung erfinden und dafür auch ihre Erfahrungen befragen. Sie müssen sich u.U. spontan selbst organisieren. Wie gesagt kann das sinnvoll sein, aber natürlich auch sinnlos und kostspielig.

Kostengünstiger wäre es, wenn man Strukturen erkennen oder schaffen könnte, wenn für ähnlich gelagerte Aufgaben Regeln zur Anwendung kommen würden, denn die sind ja manifestierte Verfahrensweisen, Routinen, die für ähnliche Bedingungen entwickelte Verhaltensgewohnheiten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fast automatisch hervorbringen.

Die Verhaltensgewohnheit ist ökonomisch interessant, denn sie senkt die Durchschnittskosten von Entscheidungen bzw. Problemlösungen durch jede zusätzliche Regelanwendung immer weiter. Entrepreneurs lieben sinkende Durchschnittskosten. Ein ähnliches oder dasselbe Reaktionsschema passt dann also ganz oft in einem Kontext. Natürlich reduziert das auch die individuellen Handlungskosten.

Ohne Regeln oder Routinen sind Unternehmen also an vielen Stellen unterversorgt. Betriebswirtschaftler sprechen gerne von der Unterorganisation, was aber die Menschen auslässt. Weil das intern Produktivitätschancen und auf Märkten Wettbewerbschancen kostet, bleibt das Unternehmen hinter seinen Möglichkeiten, und die Gründe dafür werden nicht in jedem Fall erkannt.

Man kann sich aber auch vorstellen, dass es zu viele Regeln in einem Unternehmen gibt. Die Organisation dreht sich dann quasi um sich selbst, und die Prozesse dauern lange, sind unflexibel und schwerfällig. Die Aufmerksamkeit der Menschen ist dann vor allem darauf gelenkt, bloß alle Regeln, auch die formlosen, zu beachten, an sie zu denken und sie keinesfalls zu verletzen, und wenn das doch geschieht, auch unbeabsichtigt, vielleicht den Regelbruch zu vertuschen.

Kurz gefasst gelten für diesen Fall auch die Argumente, wie oben, analog. Auch das ist eine Quelle von Ineffizienz, denn es bindet zu viele Ressourcen, lenkt sie eben weg, von dem, was wirklich wichtig ist, nur auf andere Weise, denn diese Variante schränkt die Anpassungsfähigkeit des Unternehmens ein; macht es träge.

Nun ist vorstellbar, dass es irgendwo ein Optimum zwischen diesen beiden Extremsituationen gibt

Nun ist vorstellbar, dass es irgendwo ein Optimum zwischen diesen beiden Extremsituationen gibt. Einen Punkt des optimalen Organisationsgrades, der das perfekte Verhältnis von Fremdbestimmung und Selbstbestimmung markiert, um das es ja dann letztlich geht. Dabei meine ich weder den Begriff der Optimierung, noch den der Perfektion hier umgangssprachlich, sondern streng.

Aber bei jedem Unternehmen und sogar bei jedem einzelnen Mitarbeiter liegt der Punkt woanders. Wo liegt er bei Ihnen? Welche Erwartungen richten Sie persönlich diesbezüglich an Ihr Unternehmen und seine Strukturen? Wo sieht ihn Ihre Unternehmensführung, die sicher einen noch etwas anderen Blick auf die Dinge hat?

Wie lange ist der gewählte Punkt für Ihr Unternehmen und für jeden dort optimal und woher können Sie wissen, ob er das bald nicht mehr ist? Wie lange würde dieses Optimum Gültigkeit haben, wenn doch alles einem ständigen Wandel unterworfen ist, also kontinuierlich seine Form ändert, sich in Transformation befindet? Auch die individuelle Präferenzordnung ist ja im Zeitverlauf instabil.

Also, für die Optimierung brauchen wir Rationalität, und dafür brauchen wir Vernunft im Denken und Handeln. Aber wie weit kommen wir eigentlich damit, mit diesem Anspruch? Stehen wir uns damit vielleicht auch ein bisschen im Wege? Um dem nachzugehen, und um das zu verstehen, lohnt es sich kurz darauf einzugehen, wie Vernunft und Rationalität in die Welt kamen.

Das Weltgefühl des Mittelalters lag ja eher im Außermenschlichen, in Gott, im Jenseits, im Unbewussten verankert, so sagt es Heinrich Cornelius. Aber dann trat das Irdische an die Stelle des Himmels und der Mensch an die Stelle Gottes als Gestalter und Lenker. Ein neues Weltgefühl war entstanden. Eine Welt des Diesseits, das aus Erfahrungen besteht, mit dem Verstand funktioniert, im Bewusstsein wurzelt.

Das Irdische wird nicht mehr mit Misstrauen und Geringschätzung betrachtet. Es wird legitim und immer mehr zu dem, was die Menschen als Realität begreifen. Soweit, dass sie eigentlich nur noch die haben und auch nur noch das akzeptieren können. Der Mensch erkennt seine Möglichkeiten, und das führt zu einer Art Siegeszug der Vernunft auf fast allen Gebieten. Denn wer vernünftig ist, und wer versteht, der kann die Welt selbst gestalten, Einfluss nehmen, kann lenken und steuern.

Der Mensch ist beinahe allmächtig, und diese Allmacht fußt auf den Sinnen und auf dem Verstand. Das Weltgefühl des Mittelalters wird also abgelöst durch ein Weltgefühl, das Egon Friedell in seiner wunderbaren Kulturgeschichte der Neuzeit sehr treffend als weltgesetzgeberische Selbstherrlichkeit des Menschen beschreibt.

Der davon inspirierte Unternehmer sagt also etwa: Die Welt ist voller Märkte, und die sind bunt, schön und reich geschaffen, mit Leistungen und Bedürfnissen, also Gewinnmöglichkeiten. Lasst uns davon so viel assimilieren, wie wir können. Dafür sind sie ja da, die Welt und die Wirtschaft, dafür sind wir gut ausgebildet und dafür machen wir das hier.

Damit werden das Unternehmen und die Märkte, auf denen es aktiv ist, natürlich auch zu viel mehr als nur zu Lieferanten einer erfreuenden Mahlzeit, die nur einen kleinen Appetit stillt. Die Welt mit ihren Märkten und Unternehmen ist dann eine Großküche für alles erdenkliche Nützliche im Kosmos des Materialismus. Ist das der ökonomische Imperialismus? Ist das eine Form des Extremismus der Rationalität? Das könnte sein. Nur, der Extremist und der Rationalist werten alles ab, was in ihren Augen einen Siegeszug nicht unterstützt.

Das Rationale trinkt sich in den Unternehmen also einen Rausch an

Die Unternehmensführung will ja nicht nur auf der Suche nach dem effizienten Regelsystem, sondern auf dem gesamten Operationsfeld des Unternehmens Entdecker von allem Nützlichen sein, für die Befähigung und Steigerung der internen Kräfte durch den Verstand. Die Führung wirkt dann als denkendes und gestaltendes Wesen und versucht, alles Relevante zu durchdringen. Der Verstand analysiert, zerlegt, ordnet, rechnet. Natürlich auch arbeitsteilig und mit Hilfe von Technologien. Das Rationale trinkt sich in den Unternehmen also einen Rausch an.

Unternehmen mit ihrem Materialismus und der eingeimpften Vernunft und Rationalität lassen oft nur das direkt Greifbare zu, das den groben Sinnen Eingängige. Unternehmen sind damit kaum die Orte, die das Leben und die Welt in großen Zügen erkennbar machen. Also leugnen die Unternehmen -wie der Materialismus- das Dasein höherer Kräfte, eines höheren Sinns.

Würde man mit dem Unternehmen den Materialismus überwinden wollen, um den Menschen eine natürliche Heimat zu geben, ein verlässliches, weitgehend vorhersehbares, berechenbares System, in dem mehr vorkommen darf als nur ihre vernünftige Seite, so würde man wohl das Unternehmen, das ja stets auf der Suche nach dem optimalen Verhältnis von Fremd- und Selbstbestimmung ist, das sich also in dauerhafter Transformation befindet, aufgeben müssen.

Nur am höheren Sinn muss das Unternehmen scheitern, weil es dafür nicht gemacht ist. Wir wollen es aber erhalten und selbstverständlich wollen wir, dass es ökonomisch erfolgreich ist. Es könnte sein, dass wir dafür noch mehr tun müssen, solange noch Menschen in den Unternehmen arbeiten, weil der Mensch mehr ist als das.

In Transformationsprozessen sind wir dazwischen

Wo liegt der optimale Punkt zwischen den Extremen der Selbst- und Fremdbestimmung? Wir wissen es nicht, und noch dazu ist er ist ständig in Bewegung. In Transformationsprozessen sind wir ja immer dazwischen. Das Alte gilt nicht mehr, das Neue noch nicht. Wir sind immer unterwegs und kommen eigentlich nie an. Das ist schnell Desorientierung mit der denkbaren Folge eines tiefen Pessimismus in den Köpfen der eigenen Leute, den Unternehmensführungen manchmal nicht sehen können oder nicht wahrhaben wollen, oder sie blicken etwas ratlos darüber hinweg und hoffen, dass es trotzdem irgendwie weiter geht, wie bisher.

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter empfinden sich dann aber vielleicht als atomistisch. Wo ist ihr Gravitationsmittelpunkt, wo ist ihr Kristallisationskern in Ihrem Unternehmen? Meilensteine sind eben nur Zwischenziele, die sogleich wieder an Bedeutung verlieren, weil wir ja schon wieder weiter sind und nicht zurückblicken, sondern nach vorn. In der modernen Gesellschaft mit ihren Beschleunigungseffekten wird Bewegungsdrang in Strukturen vorgegeben und für die Kultur des Unternehmens angestrebt. Man hört oft jemanden fordern: Wir brauchen eine Veränderungskultur!

Aber aus der Transformationsforschung ist bekannt, dass es für Veränderung eine Art systemischen Veränderungsstress geben muss. Bewegungsdrang gehört zum Menschen, und doch ist der Mensch mehr als nur Fleisch gewordener Bewegungsdrang. Führung, die das übersieht, gestaltet das Unternehmen womöglich nach einer Physik des Widernatürlichen. Das wird dann selbstverständlich zu Problemen führen, wenn durch das Unternehmen Maßstäbe und Richtschnüre der normalen Lebenspraxis künstlich außer Kraft gesetzt werden. Blinde Prostation und Fatalismus funktionieren für eine Weile, aber irgendwann erkennt die Führungskraft, wenn auch vielleicht erst spät und an sich selbst: Etwas stimmt hier nicht, etwas stimmt mit mir nicht.

Die Menschen sind und wollen also auch anderes und sie wollen mehr, aber die Führung wirkt oft etwas hilflos, wenn sie die Wirklichkeit des Unternehmens anders ansehen soll als rationalistisch. Dafür wird sie ja gelobt und gefördert, kompensiert, dafür wurde sie mal gut ausgebildet. Andernfalls wäre sie kritisiert worden und auf dem Weg nach oben gar nicht so weit gekommen; womöglich vor Jahren nicht mal eingestellt worden.

Aber besonders für jemanden, der den Materialismus schon ein bisschen hinter sich gelassen hat und seine Existenz mit größerer Reife begreift, ist das schnell wertlos und weitgehend unwichtig. Da erschreckt sich die Führungskraft vor sich selbst. Geht es ihr so, dann ist ihr der Materialismus irgendwie unernst und wurzellos. Es ist darum wahrscheinlich, dass sich so ein Mensch zumindest innerlich etwas vom Unternehmen abwendet.

Sollen wir das materiell denkende Gemüt zum Einstellungskriterium machen?

Sollten wir so jemanden besser gar nicht einstellen? Sollen wir das aus dieser Sicht schlichte, in erster Linie materiell denkende Gemüt zum Einstellungskriterium machen? Im Unternehmen wollen wir verständlicherweise mehr als nur den Dienst nach Vorschrift. Ist es naiv auf mehr zu bauen?

Weil es Unternehmen an diesen natürlichen Wurzeln fehlt, streben sie danach, sie irgendwie künstlich zu schaffen oder ein bisschen darüber hinwegzugehen, dass es diese Lücke überhaupt gibt. Retention Management, Anreize, auch nicht-pekuniäre Einkommensbestandteile, wie die Zuweisung von Status durch das größere Büro oder den größeren Firmenwagen, mehr Freiheiten als andere oder das Privileg von zuhause arbeiten zu können, mehr Informationen zu erhalten als andere, das sind Beispiele dafür. Oder, wenn die Verzweiflung wirklich groß ist: ein Purpose Workshop als moderne Variante der Besinnung, natürlich auf Unternehmensziele, und nur wenn es noch reinpasst, als Nebenthema auch auf das Natürliche und Menschliche.

Kommen wir mit Vernunft zur Ausgangsfrage zurück

Aber kommen wir mit Vernunft zur Ausgangsfrage zurück. Einerseits sind Routinen erstrebenswert und unverzichtbar. Sie stabilisieren die Organisation und helfen bei der Reduktion von Komplexität. Sie führen aber auch zu Pfadabhängigkeiten. Die Pfadabhängigkeit ist ebenfalls notwendig, denn wenn sich die Führung nicht für einen bestimmten Weg, z.B. für eine bestimmte Technologie entscheidet, wird sie es wohl nicht hinbekommen, das Unternehmen und die Produkte auf Märkten aus der Sicht von z.B. Konsumenten differenzierbar und einzigartig zu machen. Darüber sprach ich schon in einer anderen Episode.

Aber zugleich ist die Pfadabhängigkeit, die sich dann durch Regeln ausdrückt, die befolgt werden müssen, um auf Märkten differenzierbar zu sein, auch nachteilig, denn man macht sich ja abhängig von dem Pfad, den man eingeschlagen hat, für den man also einen Gutteil der letztendlich immer auch begrenzten Ressourcen verwendet hat.

Pfadabhängigkeit kann man eigentlich ganz gut erkennen. Sie ist immer dann entstanden, wenn das Herauslösen von Ressourcen aus spezifischen Verwendungen kostet, oder anders gesagt: Sie drückt sich aus durch den expliziten und impliziten Werteverlust, den das Verlassen eines Pfades nach sich zieht. Es ist klar, dass Pfadabhängigkeiten eine eigentlich situationsgerechte Aktion erschweren, oder sogar unmöglich machen. Pfadabhängigkeit stört also streng genommen die notwendige Flexibilität, auch bei der Auswahl von Methoden, die in Entscheidungssituationen angewendet werden sollen, und das kann auch die eigene Innovationsfähigkeit behindern.

Sollten wir mutig der Intuition folgen?

Könnte es ratsam sein, die Analysen einzuschränken, das Rationale etwas zurückzunehmen, und lieber der Intuition zu folgen, also Entscheidungen zu versuchen, die nicht ausschließlich auf der Grundlage vernünftiger Überlegungen, einer schlüssigen Gesamtargumentation und auf rationalen Argumenten beruhen?

Komplexität verlangt Öffnung, so wird gesagt, aber wenn wir öffnen, steigt dann nicht die Komplexität noch weiter? Und wenn jemand eine Situation tatsächlich als komplex beschreibt, dann ist für den Sprecher oft die Anzahl von Verhaltensoptionen zu groß, die Einfluss nehmen. Die Situation ist dann das Gegenteil von einfach, von determiniert und von überschaubar.

Es gibt zu viele Interdependenzen zwischen zu vielen relevanten Faktoren. Eine komplexe Gemengelage, wenn Sie so wollen. Das System ist nicht zu durchdringen, vielleicht sogar nicht einmal als System zu erkennen. Ökonomen bezeichnen sowas gerne als schlecht strukturierte Entscheidungssituation. Hier ist sie jetzt sehr schlecht strukturiert.

Und Ökonomen arbeiten oft mit exakten Modellen, um Systeme zu verstehen, um dann vielleicht doch eine gute Antwort auf die Frage zu finden: Was soll ich als Unternehmer, als leitender Mitarbeiter oder als Politiker usw. jetzt tun? Modelle sind immer eine Abstraktion dessen, was uns als Wirklichkeit erscheint, sie lassen das meiste weg und stellen vieles neutral und arbeiten mit rigiden Annahmen, um ein Problem überhaupt bearbeiten und zu Ergebnissen kommen zu können. Das ist doch das Gegenteil von Öffnung und trotzdem bleibt vieles unklar.

Stellen wir das Vernünftige und Rationale ein bisschen zur Seite

Schon wieder sehen wir Gründe dafür im Unternehmen das Vernünftige und Rationale ein bisschen zur Seite zu stellen. Interessant werden für solche Situationen Ansätze, die es erlauben nächste Schritte zu tun, obwohl vieles unberücksichtigt oder unklar bleiben muss, z.B. gibt es einen Aufsatz von Kathleen Eisenhardt und Donald Sull Strategy as Simpel Rules. Dort versuchen sie erst gar nicht alles zu durchdringen und verständlich zu machen, vielmehr raten die Autoren dazu der Organisation spezifische, einfache Regeln zu geben und danach dann zu verfahren. Es lohnt sich, das einmal nachzulesen. Sie finden das online im Harvard Business Review.

Die Regeln sind dann unternehmensspezifisch und repräsentieren eine Heuristik, die nur -aber immerhin- zu mutmaßlichen Schlussfolgerungen führen kann, obwohl man also das System, in das das eigene Unternehmen eingebettet ist, gar nicht ganz versteht. Man denkt übrigens auch nicht besonders angestrengt weiter darüber nach. Vernunft und Rationalität fokussieren die Regel und nicht die Situation.

Es geht also hoffentlich erfolgreich weiter, aber die Entscheidungen, die aus der Heuristik abgeleitet werden, weichen höchstwahrscheinlich von einer optimalen Entscheidung ab. Um die Abweichung zu bestimmen und so Aussagen über die Qualität der Heuristik zu treffen, müsste man das Optimum kennen. Hier drehen wir uns dann im Kreis, denn das Optimum kennen wir ja nicht. Es sei denn, wir benutzten den Begriff nur umgangssprachlich.

Wer über Intuition verfügt kann ohne Verstand zu Einsichten kommen

Ich komme zurück auf die Intuition. Vielleicht hilft sie bei allzu hoher Komplexität. Die für gute Führungspraxis zu akzeptieren ist gar nicht schwer, wenn wir uns daran erinnern, dass man häufig erfolgreichen Entrepreneurs nachgesagt, darüber wohl zu verfügen. Wer Intuition hat, der kann streng genommen zu Einsichten kommen, ohne vorherigen Diskurs, ohne seinen Verstand, also ohne Rationalität und bewusste und vernünftige Schlussfolgerung. Man könnte also sagen, das ist das Gegenteil von dem, wonach im Unternehmen das meiste ausgerichtet ist. Wenn dem so ist, liegt da ein wichtiger Widerspruch.

Unternehmen sind in aller Regel Einrichtungen, die Rationalität belohnen und nach Rationalität strebenden. Vernunft hilft dabei auf gute Entscheidungen zu kommen und die vernünftigen Argumente helfen dabei, Entscheidungen zu legitimieren. Aber wenn Intuition ins Spiel kommt, fehlen natürlich „vernünftige“ oder „rationale“ Argumente. Und weil die fehlen, springt oft anderes ein, um zu erreichen, dass Entscheidungen exekutiert werden können, die auf Intuition oder Heuristik basierende, z.B. Macht.

Je weiter wir in der Hierarchie nach oben blicken, je mehr Macht den Akteuren auf jeweiligen Hierarchieebenen schon formal zugewiesen ist, desto leichter dürfte es ihnen fallen, Entscheidungen durchzusetzen, ohne eine klar nachvollziehbare Gesamtargumentation dafür liefern zu müssen, die dann aufgrund ihrer rationalen Geschlossenheit alle anderen überzeugt. Menschen mit Macht können es einfach machen. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass die anderen das auch mittragen. Weil es tatsächlich so sein könnte und dann eventuell Gefolgschaft und Teamgeist verloren gehen, werden manchmal Scheinargumente eingesetzt.

Es gibt geradezu einen Zwang zur Intuition, Rationalität allein hilft nicht. Das relativiert die in der Hauptsache angestrebte Klarheit der Prozesse und Entscheidungswege in Unternehmen. Zugleich führt das zu Willkür in den Unternehmen, denn die folgt ja für viele Situationen daraus. Schon aus Gewissenhaftigkeit kommen Leute in echten Führungspositionen nicht ohne Verhalten aus, das auf Intuition gründet und damit für andere, die vielleicht über weniger Einsicht verfügen oder nur über weniger Informationen, willkürlich wirken muss, und damit ist es aus der Sicht nachgeordneter Mitarbeiter manchmal kaum nachvollziehbar, wirkt eigenmächtig und irgendwie eigensinnig, vielleicht auch manchmal hart.

Führungskräfte sollten das annehmen und nicht vorgeben, dass das immer zu vermeiden wäre. Trotzdem gibt es natürlich Führungskontexte, in denen das vermieden werden kann, und dann sollte es sicher auch getan werden. Führungskräfte sollten, sofern es im Hierarchiegefüge Nachgeordneten eben zuzumuten ist, diese Unschärfe intern nicht in jedem Fall mit Scheinargumenten verschleiern, sondern offen darüber sprechen. Sie sollten auch nicht unnötig viel Kraft dafür aufwenden, das Notwendige für Nachgeordnete in glasklare Richtung und Ziele zu übersetzen. In einem Umfeld, über das ich hier rede, sollte man das gemeinsam tun.

Welche Folgen hat es, wenn der Materialismus durch den Nihilismus ersetzt wird?

Schließlich ist es nur eine Frage der Zeit und der persönlichen Reife, bis dass dem Materialisten die Begrenzungen seines Daseins auffallen, und der individuelle Preis, den er dafür zahlen muss. Nehmen wir also zuletzt an, der Materialismus wird eher abgelehnt und das Wesen des Unternehmens damit eher verneint, durch einen Nihilismus überwunden oder auch nur teilweise ersetzt.

Wird jemand zum Freigeist glaubt er nicht mehr an den höheren Sinn, und noch weniger an den des Unternehmens. So jemand wird vermutlich auf Leistungsanreize nicht mehr so verlangt sensitiv reagieren. Dann hängt aber, um es mit Egon Friedell aus kulturgeschichtlicher Sicht zu sagen, dieser Freigeist genauso in der Luft, wie der Philister. Beide Geisteszustände sind ja zugleich widersprüchlich und verwandt.

Leben und Wirkung ist da, wo sich die Gegensätze treffen

Die Natur gehört zum Menschen und der Mensch im Unternehmen ist mehr als vernünftig und rational. Das anzuerkennen schafft Möglichkeiten, die man ohne dies nicht mal vermuten kann. Dem keine Beachtung zu schenken ist nicht nur bei der Führung, sondern auch bei der Personalgewinnung oft ein Versäumnis, denn dadurch nehmen wir dem Unternehmen eine seiner wichtigsten Ressourcen: die schöpferische Paradoxie. Und wie wollen wir schöpferisches Potential realisieren, was wir doch im Wettbewerb müssen, wenn wir uns davor fürchten, die Voraussetzungen dafür zu schaffen?

Ich meine wir sollten überlegen, ob es aus Sicht der Führung vielleicht ratsam ist, beide Geisteszustände noch deutlicher aufzunehmen und mit dem Unternehmen auch zu nähren. Ist das Gegensätzlich? Natürlich, aber wo sind denn Leben und Wirkung? Dort, wo sich Gegensätze treffen. Als solchen Ort sollten wir Unternehmen ansehen und so sollten wir sie gestalten. Das Unternehmen als die coincidentia oppositorum des Nikolaus Cusanus.

Um es zusammenzufassen: Verbringen Sie doch mal eine Nacht allein im dunklen Wald zwischen Hamburg und Berlin. Und wenn Sie sie treffen, grüßen Sie Henrietta ganz herzlich von mir.